Im Wagen, auf dem Weg zum Büro, dachte er über die Montagsdemonstrationen in der DDR nach. Die Nachrichten, die er beim Frühstück zu Hause gehört hatte, waren wieder darauf eingegangen. Sie hatten im September in Leipzig begonnen.
>Hoffentlich<., sagte er sich, >kommt es nicht zu Blutvergießen wie in Prag und Budapest. Hoffentlich ist die DDR-Führung in der Lage, die Hardliner in den eigenen Reihen zurückzuhalten.<
Er war jetzt in der Kölner Innenstadt auf der Nord-Süd-Fahrt und sah in einiger Entfernung zwei Pkws, die ihre Warnblinkanlagen eingeschaltet hatten und rechts am Bordstein standen. Der vordere Wagen war ein Taxi. Ein Mann mittleren Alters, vermutlich der Taxifahrer, redete wild gestikulierend auf einen kleinen älteren Herrn ein, der beschwichtigende Gesten machte.
Er näherte sich langsam der Stelle. Offenbar ein Auffahrunfall. Jedenfalls zeigte der Taxifahrer kopfschüttelnd auf sein Heck, während sich der ältere Herr die vordere Stoßstange seines Wagens ansah.
Auf der Beifahrerseite des Taxis stand eine große schlanke Frau. Sie ging aufgeregt hin und her und schaute nervös auf ihre Uhr. Jetzt konnte er sie deutlich sehen.
>Seltsamer Zufall<., dachte er. >Die Pianistin.< Er fuhr rechts ran und hielt vor dem Taxi, stieg aus und wandte sich an die Dame.
»Entschuldigung darf ich Sie ansprechen? Mein Name ist Bruno Tormack, ich bin der Fernsehdirektor des WDR hier in Köln. Sie geben morgen ein Konzert mit unserem Sinfonieorchester.«
Sie blickte ihn misstrauisch an:
»Woher kennen Sie mich? Wir sind uns nie begegnet.«
»Ein Foto von Ihnen ist auf unserem Plakat für das Konzert abgebildet. Es hängt überall in der Stadt.«
»Ach so. Aber ich habe hier leider ein Problem. Ich muss in wenigen Augenblicken zur Orchesterprobe in der Kölner Philharmonie sein, und dieser Taxifahrer hat keine andere Sorge als seine Stoßstange. Er kann mir nicht mal ein anderes Taxi rufen, weil seine Funkanlage durch den Unfall angeblich kaputt gegangen ist. Welch ein Blödsinn, ich fasse es nicht.«
»Vergessen Sie den Taxifahrer. Ich bringe Sie zur Philharmonie. Kommen Sie, steigen Sie ein.«
Er hielt ihr die Türe auf, bezahlte das Taxi und fuhr los.
»Sind alle Taxifahrer in Köln so wenig entgegenkommend?«
»Einige wenige. Wie in jeder Stadt.«
»Sehr diplomatisch.«
»Der Platz, an dem Ihre Taxifahrt endete, war passend. Ich meine musikalisch passend. Es ist der Offenbachplatz.«
»Ach ja, Jacques Offenbach ist in Köln geboren. Schön, dass man einen Platz nach ihm benannt hat.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. Sie hatte ein ernstes Gesicht mit einer schmalen, edel geschwungenen Nase. Das war ihm schon auf dem Plakat aufgefallen. Kein Allerweltsgesicht.
Er hielt am Bühneneingang der Philharmonie und wollte ihr beim Aussteigen behilflich sein. Aber sie war bereits draußen.
»Machen Sie sich keine Umstände. Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank«.
Und schon war sie in der Philharmonie verschwunden.
>Guter Typ und dann dieser aparte Akzent. Wie heißt sie bloß?<, überlegte er. >Ihr Name steht doch auf den Plakaten. Irgendetwas Slawisches.<.
»Guten Morgen Frau Felsstein«, sagte er, als er sein Vorzimmer betrat.
»Sagen Sie, wie heißt die Pianistin, die morgen mit unserem Orchester in der Philharmonie auftritt?«
»Wie bitte? Sie kennen sie nicht? Es ist Zuzana Massič. Ein Weltstar. Von der sollten Sie wirklich gehört haben, Herr Programmdirektor.«
»Sie wissen, dass ich keine Ahnung von Pianisten habe. Damit sich das ändert, will ich in dieses Konzert gehen. Ich habe die Pianistin gerettet.«
Er erzählte kurz seine Geschichte.
»Sieht sie so gut aus wie auf dem Plakat?«, fragte Frau Felsstein. Ohne die Antwort abzuwarten, fügte sie hinzu:
»Und jetzt wollen Sie also eine Karte für das Konzert.«
»Ja bitte, und zwar einen Platz, von dem aus ich den Star gut sehen kann.«
»Lieber Chef, das fällt Ihnen reichlich spät ein. Wenige Stunden nach Beginn des Kartenvorverkaufs war die Philharmonie restlos ausgebucht. Für die Massič kommen die Leute von weither angereist. Warum haben Sie die Dame nicht sofort nach einer Freikarte gefragt, als Sie der rettende Ritter waren?«
»Nunmal halblang«, sagte er, »wenn unser Orchester auftritt, bekommt der WDR Freikarten. Davon muss es noch welche geben. Was passiert denn, wenn der Intendant oder jemand aus den Gremien plötzlich Tickets braucht? Also rufen Sie bitte an und sagen, dass ich eine Karte brauche – eine einzige.«
»Wenn ich die zuständige Kollegin frage, wird sie mich abwimmeln. Die redet nur mit dem lieben Gott persönlich.«
»Ich bin aber nicht der liebe Gott. Wetten, dass Pierre Ozner es schafft, mir ein Ticket zu besorgen?«
Frau Felsstein machte ein säuerliches Gesicht, weil der Referent, ein smarter Jungakademiker, mal wieder die Nase vorne zu haben schien.
»Ich wette nicht mit Vorgesetzten.«
»Das ist klug. Ich schaue mir jetzt die Post an. Schicken Sie mir bitte Herrn Ozner.«
»Der ist leider noch nicht da.«
»Dann schicken Sie ihn eben, wenn er da ist.«
Tormack verschwand in seinem Büro und machte sich an die Post. Nach einigen Augenblicken bat er Frau Felsstein, ihn mit Attyla von Staden in Berlin zu verbinden.
»Herr von Staden ist im Gespräch und will nachher zurückrufen«, meldete Frau Felsstein, »aber dafür ist jetzt Herr Ozner da.«
»Hallo Pierre«.
»Guten Morgen Herr Tormack«.
»Zu den Montagsdemonstrationen in der DDR müssen wir etwas machen, ich meine zusätzlich zu den Beiträgen aus dem ARD-Studio in Ostberlin. Was soll unser Publikum denken, wenn wir zu diesem Thema keinen eigenen Beitrag bringen?
Beispielsweise zu den Fragen: Was denken Deutschlandkenner im westlichen Ausland über diese Demonstrationen? Wie schätzen Politiker in Paris, London und Washington diese Vorgänge ein? Wir müssen unsere Korrespondenten aktivieren. Wir brauchen Interviews mit Alfred Grosser und Henry Kissinger und so weiter und so fort.
Auf die Idee hätten unsere hoch qualifizierten politischen Redakteure und vor allem Torsten Lüwinger auch schon kommen können. Aber unser Chefredakteur denkt hauptsächlich darüber nach, wie er selbst auf den Bildschirm kommen kann.«
»Wir brauchen unbedingt eine Sendung«, pflichtete Pierre Ozner seinem Chef bei.
»Mindestens 30 Minuten für das WDR-Programm oder 15 Minuten für einen >Brennpunkt<. im Ersten«.
»Wenn Sie wollen, Herr Tormack, rede ich mal mit dem Chefredakteur. Zu mir ist er ziemlich freundlich und offen. Während die Chemie zwischen ihm und Ihnen nicht zu stimmen scheint, nach allem, was man hört.«
»Das ist teilweise richtig. Angeblich stehe ich der SPD nahe, während unser Chefredakteur der CDU zugerechnet wird. Aus Proporzgründen muss das so sein, solange Parteipolitiker ihre Interessen in den Gremien wahrnehmen können.
Lüwinger ist nicht rechtslastig, nicht klerikal, nicht konservativ. Er ist überhaupt kein CDU-Mann. Aber er hat die Mentalität eines rasenden Reporters. Das mag ich nicht. Immer nur der Aktualität hinterherhecheln, nur ja dem Massenpublikum keinen vertiefenden Beitrag mit Hintergrund zumuten. Als ob alle unsere Zuschauer nur ein einziges Buch hätten, das Telefonbuch. Ist vielleicht auch kein Wunder, Sie wissen ja, der hat kein Abitur.«
»Ich rede mal mit ihm über die Demonstrationen in der DDR«.
»Sehr gut. Und noch eine Bitte: Zuzana Massič spielt morgen mit unserem Orchester in der Philharmonie. Bitte besorgen Sie mir einen Platz, von dem aus ich die Dame gut sehen kann«.
»Wird gemacht. Wie war noch mal der Name?«
»Sie kennen Zuzana Massič nicht? Die geniale Weltklassepianistin? Sie können wahrscheinlich die Namen aller wichtigen Keyboarder in der Pop-Musik aufzählen. Aber in der richtigen Musik ... Schämen Sie sich, Pierre.«
»Ich schäme mich und verschwinde«, sagte der Referent, als Frau Felsstein den Kopf durch die Tür steckte.
»Der Hunne ist in der Leitung.«
»Entschuldigung für Sie ist es immer noch Herr von Staden, Intendant der Deutschen Oper Berlin. Stellen Sie ihn bitte durch.«
»Hallo Attyla, danke, dass du zurückrufst. Du mit deinen politischen Kontakten in Berlin bist näher an der DDR-Frage als ich. Was sagst du zu den Montagsdemonstrationen?«
»Die helleren Köpfe – ich zähle mich natürlich dazu – sagen: Dieses Jahr 1989 wird in die Geschichte eingehen. Die DDR-Führung scheint in der Einschätzung der Lage zerstritten zu sein. Sie ist nicht handlungsfähig. Die Macht der Partei zerfällt. Mit der DDR geht’s zu Ende.«
»Ich weiß nicht«, sagte Bruno Tormack, »ist da nicht der Wunsch der Vater des Gedankens?«
»Warte mal ein paar Wochen. Entscheidendes wird passieren. Ich fühle das.«
»Deine Einschätzung der Ereignisse bestärkt mich darin, umgehend eine Sendung über die aktuelle Lage in der DDR machen zu lassen.«
»Das habt ihr noch nicht getan? Wo lebt ihr?«
»In Köln. Ich wollte dich aber auch noch etwas Anderes fragen. Karajan ist jetzt drei Monate tot, und man hört immer noch nichts von einem Nachfolger.«
»Nicht so hastig, mein Lieber. So etwas dauert länger, als ihr Journalisten euch das vorstellt. Wenn das Ei gelegt ist, wirst du es schon rechtzeitig erfahren.«
»Du hörst im Berliner Kulturbetrieb das Gras wachsen. Aber mich willst Du an deinem Wissen nicht teilhaben lassen. Du bist mir ein echter Freund.«
»Weil ich das tatsächlich bin, werde ich dir keinen Namen nennen, der morgen vielleicht schon nicht mehr zur Diskussion steht. Bezähme deine Neugier!«
»Kennst du Zuzana Massič?«, fragte Bruno Tormack.
»Ich bitte dich. Wer kennt sie nicht. Wie kommst du darauf?« »Morgen gibt sie hier mit unserem Orchester ein Konzert. Ich habe sie heute kurz kennengelernt. Ein guter Typ mit einem aparten Akzent.«
»Kein Wunder. Ihre Muttersprache ist Tschechisch. Ich habe sie vor einigen Jahren gehört. Das war toll. Das Berliner Publikum hat vor Begeisterung getobt, und die Presse überschlug sich geradezu. Auf dem Klavier habe ich selten dergleichen erlebt. Du musst dir das unbedingt anhören. Und in der Pause solltest du sie mit einem Blumenstrauß im Künstlerzimmer aufsuchen.«
»Auf die Idee bin ich auch schon gekommen«, log Bruno Tormack.
Er hatte den »Hunnen« auf der Universität in Köln kennengelernt. Sie waren gleichaltrig, Jahrgang 1944. Ihre Eltern hatten sie auf die Universität gedrängt. Sie trafen sich bei Vorlesungen und Seminaren in der juristischen Fakultät. Beide hatten das Studium relativ lustlos begonnen, ohne eine deutliche Neigung für ein anderes Fach zu haben. Aber juristische Grundkenntnisse konnten nicht schaden.
Gemeinsam besuchten sie das Theater, Ausstellungen, Klassikkonzerte. Sie hielten studentische Verbindungen für ein anachronistisches Relikt und empfanden das Ende der Adenauerära als den Beginn einer neuen Zeit.
Als Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus die Worte sprach »Ich bin ein Berliner«, hatten sie ihr politisches Idol gefunden. Sicherlich würde er den Vietnamkrieg schnell beenden. Dass dieser elf Jahre dauern sollte, machte sie, nachdem sie die Universität schon lange verlassen hatten, um eine Illusion ärmer.
Einig waren sie sich auch in der Ablehnung der revolutionären Tendenzen in der Studentenschaft der sechziger Jahre. Sie wollten die Welt nicht verändern, sondern sich in ihr zurechtfinden und eine ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende berufliche Karriere machen.
Bruno Tormack stammte aus kleinbürgerlichem Milieu. Sein Vater ging als Geschäftsführer einer mittelständischen Elektrofirma in seinem Beruf auf und hatte weder Zeit für seine Frau noch für seinen Sohn. In der unerfüllten Ehe schenkte die Mutter ihre ganze Liebe dem einzigen Kind.
Der aufgeweckte Junge war in seinem Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht unsicher und verklemmt.
Ganz anders Attyla von Staden. Er wurde in einem mondänen Haus groß. Sein Vater, ein Gentleman, hatte in der Bauwirtschaft ein Vermögen gemacht.
Seine Mutter, eine richtige Dame, war kulturell vielseitig interessiert und hielt Fragen des Gelds immer auf Abstand. Sie hatte an einer englischen Schule Abitur gemacht und in Paris ein wenig Soziologie studiert. Als sie auf einem Golfplatz in der Nähe von Saint Tropez ihren künftigen Mann kennenlernte, brach sie das Studium ab.
Attyla war ein Schürzenjäger. Typisch für ihn war eine Geschichte, die Bruno Tormack nicht vergessen konnte.
Sie hatten an einem studentischen Segeltörn in der Ägäis teilgenommen. Außer Attyla und ihm waren zwei junge Pärchen an Bord. Schon beim Start im Jachthafen von Piräus flirtete Attyla ungeniert mit der hübscheren der beiden Frauen.
Ihr Freund, ein muffeliger Typ, tat so, als ob ihm alles egal sei, wehrte sich nicht und schlug auch nicht mit der Faust auf den Kajütentisch. Kein Wunder, dass die junge Frau Attyla immer gewogener wurde.
Wenn die Yacht am späten Nachmittag im Hafen auf einer Kykladeninsel festmachte und die Crew an Land ging, bat Attyla nach dem gemeinsamen Abendessen die Freundin des anderen zu einem Spaziergang. Die beiden verließen die konsternierte Runde und kamen nie vor Mitternacht zurück an Bord. Einmal sogar erst um fünf Uhr morgens.
Als der Törn in Piräus endete, verabschiedete sich der muffelige Typ von seiner – inzwischen – ehemaligen Freundin, um ein paar Tage allein in Athen zu verbringen. Attyla hakte sich sofort bei seiner neuen Freundin unter, ging mit ihr zum nächsten Kartenschalter und kaufte zwei Tickets für die Fähre nach Ägina.
Bruno war wütend. Schließlich hatten die beiden Freunde eine gemeinsame Reise vereinbart, die jetzt abgebrochen wurde – nur wegen dieser Zufallsaffäre. Als Bruno sich beschwerte, fragte Attyla kaltschnäuzig:
»Warum hast du dich nicht an die andere Frau rangemacht?«
Da platzte Bruno der Kragen, er schrie ihn an:
»Du Mistkerl. Du hast die Moral eines Pavians.«
Bruno war nachtragend. Sein Verhältnis zu Attyla wurde durch diese Geschichte belastet. Dennoch beschlossen sie, gemeinsam an die Freie Universität in Berlin zu gehen. Mit dem Ortswechsel brachen sie das Jurastudium ab. Bruno wandte sich der Politikwissenschaft zu, Attyla der Kunstgeschichte und Literatur.
Bruno, der immer schon zum Journalismus tendierte, begann zu schreiben, zunächst für eine Studentenzeitung, dann für eine kleine politische Monatszeitschrift und später auch gelegentlich für eine Berliner Tageszeitung. Er schrieb Kommentare und Glossen, manchmal auch gesellschaftspolitische Analysen.
Attyla strebte in den Kulturbetrieb. Er wirkte als Aushilfe bei einer Theaterproduktion mit, sammelte Material für den Katalog einer Ausstellung, recherchierte für den Redakteur eines Programmhefts oder holte im Auftrag eines Orchesterdirektors am Flughafen einen Sänger ab, der für Beethovens Neunte engagiert worden war.
In Berlin trafen sich die beiden Freunde viel seltener als in Köln. Sie gingen nicht mehr zusammen ins Theater oder Konzert, sondern trafen sich nur noch zu gelegentlichen Abendessen in den einschlägigen Studentenkneipen. Natürlich tauschten sie sich über ihre beruflichen Absichten aus.
Für Bruno war klar, dass er mindestens Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung werden würde, lieber noch Chef im Fernsehen, am liebsten beim WDR in Köln. Er erzählte Atylla, dass er, wenn er früher in Köln an einem WDR-Gebäude vorbeigegangen war, sich jedes Mal geschworen hatte:
»Da werde ich in einer leitenden Position landen.«
»Ich drücke dir die Daumen. Aber ich will nicht nach Köln zurück. Berlin ist meine Welt. Hier werde ich Kultursenator oder Chef der Deutschen Oper oder so etwas Ähnliches.«
Dann kam Attyla unweigerlich auf seine Liebschaften zu sprechen. Mal war es die Sekretärin aus dem Vorzimmer eines Kulturmanagers, mal eine Ballerina aus dem Corps de Ballet der Oper oder eine Geigerin aus einem der Berliner Orchester. Er sprach von diesen Frauen immer mit einem ironischen Unterton, als wäre das alles für ihn nur ein Spiel.
Bruno, der keine Freundin hatte, hörte sich die Geschichten zwar staunend an, aber innerlich lächelte er über Attyla. Er fand diese Angeberei pubertär. Außerdem musste er dabei immer an den Griechenlandtörn denken.
Die gemeinsamen Abendessen wurden seltener. Bruno hatte von Attylas »Weibergeschichten«, wie er es nannte, irgendwann die Nase voll.
Wladimir Bezalsky war Chefdirigent des WDR-Orchesters und hatte seine Termine so disponiert, dass er selbst das Konzert mit der Massič in der Kölner Philharmonie im Oktober 1989 leitete – und nicht irgendein Gastdirigent.
Er war russischer Abstammung, aber seine musikalische Laufbahn hatte in Westeuropa stattgefunden. Außer Russisch sprach er Englisch und Deutsch. Das Kölner Orchester leitete er seit fünf Jahren.
Mit Zuzana Massič hatte er bisher noch nicht musiziert. Natürlich kannte er Dirigierkollegen, die sie begleitet hatten. Er hatte viele ihrer Aufnahmen mit und ohne Orchester gehört, las die Kritiken über ihre Auftritte und die seltenen Interviews, die sie gab.
Das Bild, das er von ihr hatte, wurde durch den Musikerklatsch ergänzt: Sie sei nicht nur verschlossen, sondern auch sehr schwierig. Sie würde grob und ausfallend werden, wenn ein Orchester, das sie begleitete, nicht so spielte, wie sie es sich vorstellte. Sie habe eine eiserne Disziplin und erwarte von allen Musikern bedingungslose Hingabe an die Musik. Für ihre rasanten Tempi war sie berühmt, wenn nicht gar berüchtigt.
Karl Frohlieb, der Orchestermanager, hatte die Massič am Vortag am Flughafen abgeholt und sie daran erinnert, dass die Probe heute Vormittag wie geplant um 10 Uhr beginne. Jetzt ging er mit Wladimir Bezalsky in die Garderobe der Pianistin und stellte ihr den Dirigenten vor. Wegen des Taxis war sie erst in letzter Minute angekommen und nicht bei bester Laune.
»Das Orchester und ich«, sagte Bezalsky, »freuen uns auf die Zusammenarbeit mit einem Star wie Ihnen.«
»Danke. Sie schmeicheln mir. Aber unter uns: Ich gebe nicht viel darauf. Ich versuche, anständig Klavier zu spielen. Der Rest ist mir egal.«
Karl Frohlieb drängte die beiden zur Bühne, denn die Probe sollte pünktlich beginnen.
Auf dem Weg sagte die Massič:
»Ich habe ihre CD mit dem >Sacre du printemps<. und dem WDR-Orchester gehört. Hat mir sehr gefallen. Klasse. Das Orchester ist brillant, und sie machen aus Strawinskys Stück echte >Bilder aus dem heidnischen Russland<.. Es geht eben nicht ohne russische Seele.«
Obwohl Wladimir Bezalsky das Stereotyp von der russischen Seele nicht mehr hören konnte, gefiel ihm die Anerkennung der großen Massič; sie interessierte sich offensichtlich nicht nur für Klaviermusik.
Die Beiden kamen auf die Bühne. Die Streicher klopften mit ihren Bögen an die Pulte. Die Massič verbeugte sich zum Orchester und gab dem Konzertmeister die Hand.
Sie setzte sich an den Flügel, den sie am Vortag kurz nach ihrer Ankunft bereits ausprobiert hatte. Er schien ihren Ansprüchen zu genügen, jedenfalls hatte sie nichts gesagt. Das Instrument war vor der Probe noch einmal gestimmt worden.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, begrüßte Bezalsky das Orchester.
»Wir haben die große Freude und Ehre, mit Zuzana Massič Beethovens Es-Dur-Konzert aufzuführen.«
Sie spielten den Kopfsatz von Anfang bis Ende ohne Pause durch. Nach dem Schlussakkord applaudierten die Musiker. Die Massič erhob sich, lächelte ins Orchester und stellte sich links neben den Dirigenten. Ohne Umschweife blätterte sie einige Seiten seiner Partitur um und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle:
»Hier war das Blech zu Laut.«
Sie blätterte weiter:
»Hier war das Holz zu leise.« Dann zählt sie:
»Ab Takt 174 waren die Streicher-Einwürfe zu laut.«
Sie übersprang viele Seiten:
»Ab 310 waren wir nicht zusammen, weil die Streicher zu langsam waren.«
»Ab 516 waren die Hörner unsauber, und die Pizzicati sollten lauter sein.«
So ging es weiter. Gelegentlich blätterte sie zurück, weil ihr nachträglich noch etwas eingefallen war. Manchmal sang sie eine Orchesterstimme, weil die Phrasierung nicht in ihrem Sinn gewesen war.
Ohne Zurückhaltung und wie selbstverständlich übernahm sie die Aufgabe des Dirigenten. Bezalsky schaute sie ungläubig an. So etwas hatte er noch nie erlebt. Trotzdem machte er sich, folgsam wie ein Schüler, Bleistiftnotizen in die Partitur.
Jetzt begann die übliche für alle anstrengende Feinarbeit. Die Massič zeigte keinerlei Ermüdungserscheinungen, sie drängte weiter und wollte zum zweiten Satz übergehen. Viele Musiker blickten auf ihre Uhren, auch Bezalsky:
»Okay, den langsamen Satz machen wir noch.«
Etwa in der Mitte brach die Massič ab:
»Keine Probleme, das ist in Ordnung. Kommen wir zum Schlusssatz.«
»Pause!«, riefen mehrere Musiker sofort.
»Frau Massič«, sagte Bezalsky höflich, während die Musiker aufstanden und zum Ausgang strömten, »wir müssen eine Pause einlegen. Sie wissen: die Spielregeln.«
»Ja, ja«, sagte die Massič ironisch lächelnd, »die deutschen Rundfunkorchester haben besonders viele Pausen.«
»Wollen wir zusammen einen Kaffee trinken?«, fragte er die Pianistin.
»Nein danke. Ich bleibe am Klavier.«
Sie begann mit halsbrecherischen Fingerübungen.
Nach einer Weile pausierte sie und machte Lockerungsbewegungen für ihre Hände, Arme und Schultern. Zur eigenen Verwunderung dachte sie an den Menschen, der sie von dem zeternden Taxifahrer und seinem blödsinnigen Blechschaden erlöst hatte. Bruno hieß er. Den Nachnamen hatte sie vergessen.
Auf dem Weg zur Cafeteria sah Bruno Tormack das Konzertplakat.
>Schönes Photo,< dachte er. >Welch ein Gesicht! Klasse!<.
Er nahm wie üblich einen Cappuccino und ein Croissant zu sich. Sein Referent, der stets wusste, wo der Chef war, trat mit einem Siegerlächeln an den Tisch und überreichte ein Ticket:
»Es war nicht ganz einfach, Herr Tormack.«
»Bravo. Ich war sicher, dass Sie das hinbekommen.«
»Und zwar eine gute Karte. Block E. Von dort sehen Sie der Pianistin auf die Finger und ihr Gesicht im Profil.«
»Bitte beschäftigen Sie sich mal mit Frau Massič. Ich würde gern mehr über sie wissen, als im Programmheft stehen wird: Herkunft in der Tschechoslowakei, Elternhaus, Studium, verheiratet, Kinder und so weiter. In unserer Bibliothek gibt’s sicherlich etwas.«
»Gern, das mache ich lieber, als Unterlagen für die nächste Rundfunkratssitzung zusammenzustellen.«
»Und ich würde, statt in diese Sitzungen, lieber häufiger in Konzerte wie das mit der Massič gehen. Was spielt die Dame eigentlich?« fragte Bruno Tormack.
»Beethovens 5. Klavierkonzert.«
»Zeichnen wir das Konzert auf?«
»Nein. Nur der Hörfunk schneidet mit. Die Kollegin, der ich das Ticket für Sie aus der Nase gezogen habe, meinte schnippisch: >Karten wollt ihr fürs Fernsehen, aber eine Aufzeichnung macht ihr nicht<.«
»Sie hat recht, das ist wieder typisch: Jeden Bockmist von Karnevalssitzungen bis zur Volkstümlichen Musik zeichnen wir mit einem Dutzend Kameras und Personal in Kompaniestärke auf, aber wenn ein Weltstar wie die Massič hier ist und sogar mit unserem eigenen Orchester spielt, dann kriegen wir das nicht hin. Ich werde sofort mit unserem sogenannten Kulturchef telefonieren.«
>Der muss sich jetzt aber warm anziehen<., dachte Pierre Ozner.
In seinem Büro ließ sich Bruno Tormack umgehend mit Gregor Herkenbach verbinden.
»Mein lieber Kulturchef«, sagte der Programmdirektor mit dem gewissen Unterton, den er immer anschlug, wenn er als Vorgesetzter mit einem seiner leitenden Mitarbeiter ein Hühnchen zu rupfen hatte. Wenn er dann auch noch »mein lieber« sagte, war Ärger im Verzug. Herkenbach war also gewappnet. Und er hatte ein dickes Fell.
»Ich bin morgen Abend in der Philharmonie für das Konzert mit unserem Orchester und der Massič. Der Kulturchef des WDR wird ja sicherlich auch da sein.«
»Leider nein. Erstens mag ich solche bürgerlichen Veranstaltungen grundsätzlich nicht, und zweitens wird meine Mutter morgen 80.«
»Hängt die Tatsache, dass wir dieses bedeutsame Konzert nicht aufzeichnen, mit Ihrer persönlichen Aversion gegen solche Veranstaltungen zusammen?«
»Überhaupt nicht. Die Entscheidung trifft die zuständige Fachredaktion, in diesem Fall also unser Musikredakteur Dolf Hainmann. Welche Gründe der dafür hatte, die Darbietung nicht aufzuzeichnen, weiß ich nicht. Ich kann ihn aber fragen und Sie dann zurückrufen. Oder wollen Sie der Einfachheit halber selbst mit ihm sprechen?«
»Bei solchen Entscheidungen können nicht nur rein fachliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Es gibt auch übergeordnete Aspekte, die der Redakteur vielleicht nicht im Blick hat, und die möchte ich schon mit Ihnen erörtern. Bitte rufen Sie mich wieder an, wenn Sie mit dem Musikredakteur gesprochen haben.«
Für den dritten Satz des Beethovenkonzerts waren wieder alle auf der Bühne. Das Ende des langsamen zweiten Satzes geht ohne Unterbrechung in diesen schnellen Schlusssatz über. Zuzana Massič spielte die letzten Takte des langsamen Satzes sehr verhalten und extrem leise.
Dann brach ein Furioso los. Die Massič legte ein Wahnsinnstempo vor. Mit ganzer Körperkraft hämmerte sie auf den Flügel ein. Der Klaviertechniker bangte um das edle Instrument. Die Mannschaft in der Tonregie fürchtete um ihre Aufnahmegeräte. Die Musiker erstarrten wie vom Blitz getroffen.
Als das Orchester nach diesen ersten vierzehn Takten, die die Solistin fast alleine zu spielen hat, übernommen hatte, brach Bezalsky bald ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagt atemlos zu ihr:
»Die Tempobezeichnung lautet >Allegro<. und nicht >Vivacissimo<. Das ist viel zu schnell.«
Ruhig hob sie den Kopf und schaute ihn offen an. Nach einer winzigen Pause entgegnete leise und langsam:
»Beethoven war keine phlegmatische Schlafmütze. Ich bin sicher, dass er sich genau dieses Tempo vorgestellt hat«.
Die Unbeugsamkeit und Autorität, die hinter diesen Worten standen, ließen Bezalsky den Mut verlieren. Es würde sowieso nicht reichen, wenn sie nur etwas langsamer spielte – viel langsamer müsste sie sein, aber darauf würde sie sich nicht einlassen, das war ihm klar.
»Also noch mal gleiche Stelle, gleiches Tempo«, sagte er zum Orchester und hob gottergeben die Arme zum Einsatz. Den Musikern machte das rasante Tempo, wie eine sportliche Herausforderung, mehr und mehr Spaß. Schließlich waren sie Vollprofis, die dieses Stück schon oft gespielt hatten. Ob das Tempo musikalisch »richtig« war – da hatten sie allerdings Zweifel.
Dennoch wuchs ihre innere Zustimmung im weiteren Verlauf des Satzes und schlug allmählich in Begeisterung um. Am Ende dieses ersten Durchspiels klatschten alle der Massič Beifall, einige sprangen von ihren Stühlen auf und riefen Bravo. Bezalsky trat mit glänzenden Augen auf sie zu und stammelte:
»Klasse, einfach Klasse, so habe ich das noch nie gehört.« Wieder waren die kritischen Anmerkungen der Massič sehr präzise und bewiesen eine restlose Beherrschung der Partitur, nicht nur ihres eigenen Parts, sondern des ganzen Werks. Sie gehörte zu den wenigen Musikern, die mit einem fotografischen Gedächtnis für Noten begabt sind und daher eine Partitur wie einen Film vor ihrem geistigen Auge ablaufen sehen.
Wieder machte sich der Dirigent Bleistiftnotizen – folgsam und diskussionslos. Das Orchester wunderte sich über seine Willfährigkeit. Denn normalerweise war ihr Chef energisch und behielt das Heft immer in der Hand, egal wie berühmt die Solisten sein mochten.
Aber die Massič wusste mit unabänderlicher Bestimmtheit, was sie wollte und was nicht. Mit ihrer leisen Stimme und keinen Widerspruch duldenden Unerbittlichkeit hatte sie ein Charisma, das Kompromisse oder gar ein Gefeilsche in musikalischen Fragen ausschloss.
Akribisch zählte sie die Stellen auf, an denen sie mit dem Orchester nicht zusammen gewesen war, weil es zu langsam gespielt hatte. Sie erinnerte sich genau, wo das zweite Horn gekickst und wo ein Kontrabass einen falschen Ton gespielt hatte. So ging es weiter, bis die monierten Stellen geprobt und fehlerfrei waren.
Die Massič bestand sogar auf der Wiederholung von Orchesterpassagen, in denen sie gar nicht zu spielen hatte, und ließ erst locker, wenn Bezalsky ihre Vorschläge umgesetzt hatte. Sie trug ihre Kritik unverblümt, aber immer liebenswürdig vor. Dabei kam ihr der weiche und sanfte Akzent ihrer Sprache zustatten.
Am Ende der Probe, als alle die Bühne verließen, trat der Konzertmeister, ein Tscheche, auf sie zu und sagte ihr in beider Muttersprache:
»Es war genial. Aber das liegt nicht nur an Ihrem Tempo, sondern auch an Ihrem Anschlag und den weichen melodiösen Bögen und an Ihrer unglaublichen Leichtigkeit – nichts Verbissenes, nichts Teutonisches.«
Zuzana freute sich sehr über die Anerkennung des Kollegen und Landsmannes.
Endlich meldete sich der Chefradakteur wegen der Sendung zu den Montagsdemonstrationen. Torsten Lüwinger hatte in seinem Team Herbert Bürken auf das Thema angesprochen, einen der besten Kenner der DDR, Historiker und Zeitgeschichtler. Bürken hatte mit der Arbeit bereits begonnen, gleichzeitig hatte er den Beitrag fürs Erste Programm in München angemeldet und inzwischen das OK bekommen.
»Das ist prima«, sagte Bruno Tormack. »Aber muss es schon wieder Herbert Bürken sein? Gibt es nicht auch andere? Wir sollten uns verstärkt um neue Namen kümmern.«
Torsten Lüwinger hatte mit diesem Einwand gerechnet, weil Herbert Bürken als CDU-Mann galt. Die SPD-Mitglieder im Rundfunkrat drängten immer auf Alternativen und Meinungsvielfalt, wenn sein Name fiel.
»Aber in diesem Fall«, fuhr Bruno Tormack fort, »stehen wir unter Zeitdruck. Wir können nicht lange weitersuchen. Also grünes Licht von meiner Seite.«
Jetzt war der Kulturchef am Telefon.
>Wurde ja auch Zeit<., dachte Tormack.
Gregor Herkenbach berichtete von seinem Gespräch mit seinem Musikredakteur. Dolf Hainmann hatte es sich bei der Frage: Massič-Aufzeichnung, ja oder nein nicht leicht gemacht. Die Gründe, die dagegen sprachen, waren gewichtig.
Beethovens fünftes Klavierkonzert war in den letzten Jahren mehrfach aufgezeichnet worden – unter anderen von Radio France, von der RAI in Italien, der BBC und NHK Tokio. Der WDR konnte diese Produktionen mit Spitzensolisten für einen annehmbaren Betrag übernehmen, was insofern eine Rolle spielte, als das Fernsehhonorar der Massič extrem hoch war.