304 Seiten. Tredition/Hamburg 2014
Hardcover, Paperback, Ebook
Im Oktober 1989, wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer, spielt Zuzana Massič in der Kölner Philharmonie Beethovens 5. Klavierkonzert mit dem Sinfonieorchester des WDR. Sie ist eine international erfolgreiche, tschechische Pianistin. Bruno Tormack, Fernsehdirektor des WDR, lernt sie bei dieser Gelegenheit kennen und verliebt sich in sie. Für ihn ist es die große Liebe. Sie allerdings glaubt, nur die Musik wirklich lieben zu können.
Attyla von Staden, ein Studienkollege des Fernsehdirektors, ist Intendant der Deutschen Oper Berlin und ein Frauenheld. Zu seinem 50. Geburtstag gibt er eine Party. Daran nehmen Zuzana Massič und Bruno Tormack teil, die inzwischen verheiratet sind.
Von Staden macht der Massič den Hof. Sie verfällt ihm und verlässt ihren Ehemann. Bruno Tormack stürzt in eine Lebenskrise. Er ist seinen beruflichen Aufgaben nicht mehr gewachsen.
Für Attyla von Staden ist das Verhältnis mit der Massič nur eine von vielen Affären. Wegen einer Anderen trennt er sich von ihr. Die Massič zerbricht daran. Sie wird nervenkrank und medikamentenabhängig. Ihre Karriere ist zu Ende. Sie stirbt im Alter von 44 Jahren – am 11. September 2001.
Die Welt blickt nach New York, auf das World Trade Centre und den Terroranschlag.
Der Tod der großen Künstlerin bleibt unbeachtet.
Besprechung
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Rezensionen und Neuigkeiten aus dem Musikleben
Heinemann, Rudolf: Zuzana. Triumph und Tragik einer großen Pianistin. Roman – Hamburg: tredition, 2014. – 304 S.
ISBN 978-3-8495-8905-9 : € 16,80 (Pb.; auch als e-Book)
Wer jahrzehntelang in Kultur und Medien gestaltend aktiv war, verewigt sich gerne in Memoiren und Autobiographien. Nicht weniger Neugier aber provoziert derjenige, der sich vom Anspruch des Faktischen verabschiedet und Erfahrungen aus beruflichem Metier zu belletristischen Inspirationen verarbeitet. Dass also Rudolf Heinemann, 1978 bis 2003 Musikredakteur beim WDR Köln, in seinem zweiten, gegenüber Uraufführung nur noch begrenzt satirischen Erzählwerk auf unvermeidlich real Erlebtes zurückgreifen muss, belegt bereits das annoncierte Sujet: Im Oktober 1989 begleitet das WDR Sinfonieorchester in der Kölner Philharmonie die – erfundene – tschechische Weltklassepianistin Zuzana Massic, Jahrgang 1957. Ihre Bekanntschaft macht per Zufall der ebenfalls fiktive WDR-Fernsehdirektor Bruno Tormack. Seit Jahren Witwer und in Liebesdingen zurückhaltend, zieht es ihn magnetisch zu der Ausnahmekünstlerin hin – so weit, dass er sich dienstlich zu verzetteln droht. Denn gerade jetzt fordern aktuelle Entwicklungen in der DDR das wachende Auge des Programmverantwortlichen. Und welche Schatten die Ereignisse im Osten vorauswerfen, erfährt Bruno im Telefonkontakt mit seinem Studienfreund Attyla von Staden, Intendant der Deutschen Oper Berlin und dritter Phantasie-Protagonist einer folgenreichen Beziehungskette. Denn von solch publicitysüchtigem Egomanen und notorischem Frauenverführer hat sich der bodenständige Politjournalist mental längst entfremdet.
Schnell rekapituliert, nicht ohne hergebrachte Handlungsklischees ist das äußere Geschehen: Nach dem Kölner Konzert nutzt Tormack eine ARD-Sitzung in München zu einer weiteren Begegnung mit dem Star. Man versteht sich, fühlt sich verstanden und im Berufsstress auch menschlich aufgefangen. Nach weiteren Dates an Europas Konzertstätten nimmt Zuzana Brunos Heiratsantrag an. Doch im Rausch von superlativisch zelebrierten Triumphen dräuen zugleich erste Menetekel der im Untertitel pathetisch beschworenen Tragik herauf: Musik und Beruf sind Zuzanas Lebensmittelpunkt. Auch ihren Wiener Wohnsitz will sie nicht missen. Überschattet ist ihre gerühmt uneitle, von divenhaften Allüren freie Wesensart auch durch zwei Kindheitstraumata: die Entzweiung von der nur züchtigend erlebten Mutter, die nebulöse Vorgeschichte des ihr ansonsten zugewandten Vaters, der als hoher Funktionär nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 unter ungeklärten Umständen die Heimat verließ und dort Persona non grata bleibt – eine Hypothek, die Zuzana zumal bei Gastspielen im sozialistischen Osten zu schaffen macht. Trotz aller Hindernisse könnte die unkonventionelle Ehe durchaus funktionieren. Wäre da nicht jener Attyla von Staden.
Rapide wendet sich das Blatt: Auf Attylas illustrer Party zum Fünfzigsten erliegt auch Zuzana definitiv seinem oberflächlichen Charme und glaubt an seiner Seite den Einstieg ins wahre Leben mit seinen auch sinnlichen Seiten gefunden zu haben. Und nun wird ihr – Amour fou nach allen Regeln der Kunst – ihre emotionale Labilität zum Verhängnis: Bald schon entledigt sich Attyla auch ihrer, dient sich kriecherisch empor zum imperialen Berliner Generalintendanten und wäscht seine Hände in Unschuld. Zuzana und Bruno dekompensieren völlig …
Ein Philosophieren über „Hätte“, „Könnte“, Schuld oder gesellschaftskritische Botschaften bleibt Aufgabe des Lesers. Heinemann favorisiert ein lesefreundlich arrangiertes Geschehen, das skurril mit erfundenen Figuren (zu nennen auch Zuzanas Agent und Betreuerin oder WDR-Dirigent Wladimir Bezalsky) und authentischem Personal jongliert. Aus dessen Pool agieren unter vielen anderen Giuseppe Sinopoli, Kurt Masur, Carlos Kleiber, Justus Frantz, Joachim Kaiser wie auch Gerd Ruge oder Richard von Weizsäcker.
Das eigentlich Spannende, Individuelle aber liegt im Informationsgehalt der Episoden, Exkurse und – nach Realismusmaßstab – recht elitär formulierten Dialoge: Zuzanas Künstlerprofil mit persönlichen Auffassungen zur Partiturauslegung und Repertoiregestaltung, ihrem gecoachten Erscheinungsstil vor Publikum oder ihrem dank Bruno entkrampften Verhältnis zur Fachpresse. Einblicke in Musikidiome der weltweiten Tourneeländer stehen neben Gagen-, Vertrags- und Honorarfragen der Klassikbranche sowie politischen, personellen und finanziellen Spannungsfeldern im öffentlich-rechtlichen Apparat.
Insgesamt eine kaleidoskopische Lektüre, die in Lightversion Ingredienzien des Künstler- und Eheromans mit episch-biographischer Lebensgeschichte sowie Milieustudien des Musik- und Medienbetriebs abmischt – nostalgieweckend durch einen Bogen von den Wendejahren bis Punkt 09/11.
Andreas Vollberg
Köln, 07.09.2014
Leseprobe
Zuzana war schon in Luzern, als Bruno ankam. Sie war in bester Verfassung. In ihrem Wiener Refugium hatte sie sich erholt und ausgiebig geübt. Pianistisch war sie in Hochform.
Sie freute sich, ihn wiederzusehen und umarmte ihn herzlich. Sie neckte ihn, weil er wie so oft sehr ernst drein blickte. Über seinen Bauchansatz ließ sie eine scherzhafte Bemerkung fallen.
Sie machten sich auf den Weg zum »Konzerthaus am See«, nachdem sie in der Hotelbar einen Kaffee getrunken hatten.
Zuzana spielte das Es-Dur-Konzert von Franz Liszt. Das Publikum war aus dem Häuschen, obwohl der Beifall mit Understatement gespendet wurde. In der Pause überreichte Bruno seinen Blumenstrauß.
Ein gesetzter Herr, der sich als Kulturdirektor des Kantons Luzern vorstellte, bat Zuzana zu einem Empfang in einem Restaurant nahe beim Konzerthaus. Zuzana nahm diese Einladungen fast nie an, diesmal aber stimmte sie zu.
»Darf ich einen guten Freund mitbringen? Er ist Fernsehdirektor einer großen deutschen Rundfunkanstalt.«
»Aber selbstverständlich, gnädige Frau. Es ist mir eine Ehre.«
Das Restaurant gehörte zur Spitzenklasse. Speisen und Getränke waren vom Feinsten: französischer Champagner, erstklassiger Fendant, ein St. Emilion Grand Cru, iranischer Kaviar, bretonischer Hummer, Rebhuhn, Milchlammkeule. Der Sponsor war eine große Schweizer Bank, die einen runden Geburtstag zu feiern hatte. Es gab viele Leute.
Es war ein gesitteter Empfang, ein wenig langweilig, aber sehr gediegen.
Zuzana und Bruno verabschiedeten sich bald und kehrten auf dem Rückweg zum Hotel in einer lauschigen Weinstube ein.
„In Amsterdam war ich nicht sehr nett zu dir. Ich bin mir dessen wohl bewusst und entschuldige mich dafür, aber ich kann dir keine Besserung versprechen. Es wird sich wiederholen.
Du darfst dir mein Verhalten in solchen Situationen nicht zu Herzen nehmen. Auf einer strapaziösen Tournee kann es passieren, dass ich nach einem anstrengenden Konzert ausgelaugt und erschöpft bin. Dann stört mich alles und jeder – sogar Simona oder du. Da hilft nur das Bett.«
Bruno schaute sie ernst an:
„Ich hatte mich auf unser Wiedersehen in Amsterdam sehr gefreut. Schließlich waren wir seit München nicht mehr zusammen gewesen. Auch war es das erste Mal, dass ich dich so abweisend mir gegenüber erlebte. Ich fragte mich, ob Du mir den Laufpass gibst.«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
»Dann wurde mir klar«, fuhr Bruno fort, »dass Du im Grunde gar keine Vorstellung davon haben kannst, wie wichtig Du mir bist. Ich habe es dir nicht gesagt, jetzt tue ich es, obwohl es mir – wie den meisten Männern – schwerfällt, meine Gefühle zu beschreiben.
Du bringst meine Seele durcheinander, wie ich es noch nie erlebt habe. In mir tobt ein Chaos, aber ein zutiefst angenehmes Chaos, das mir über die Maßen gefällt.«
Er hielt inne und sagte leise die ganze Wahrheit:
»Ich liebe dich«.
Zuzana war stumm. Sie schaute auf ihr Glas. Dann legte sie ihre Hände auf seine und blickte ihn an: in die Augen, auf den Mund, auf die Wangen. Sie hatte wieder diesen grüblerischen, verhangenen, slawischen Blick, als sie sagte:
»Lass uns gehen. Ich möchte mit dir schlafen.«
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In Hiroshima gab es am Vormittag die übliche Anspielprobe im Konzertsaal. Die »Phoenix Hall« gehört nicht zu den schönsten Sälen in Japan, aber die Verantwortlichen in Köln und Tokio hatten entschieden, dass die Stadt wegen ihrer historischen Bedeutung auf dem Tourneeplan nicht fehlen durfte. Zuzana hielt die Entscheidung für richtig.
Nachmittags schlenderten Zuzana und Bruno durch einen Park, zu dem auch ein Steingarten gehörte. Der Parkaufseher sagte ihnen, dass es sich um einen buddhistischen Garten ohne Wasser und ohne große Pflanzen handelt. Nur Steine unterschiedlicher Größe auf hellem Kies, in den man mit einem Rechen schmale Furchen gezogen hatte, waren zu sehen. Zuzana und Bruno setzten sich auf eine Bank und versenkten sich in diese Landschaft der Ruhe und Stille. Nach einer Weile sagte Bruno:
»An diesem Ort, der zum Schweigen auffordert, muss ich dir gestehen, dass ich dir etwas verschwiegen habe. Einen Traum.«
Sie schaute ihn irritiert an.
»Es war ein Albtraum, er hatte mit uns beiden zu tun, auf tragische Weise. Er schwebt seitdem als Bedrohung über mir.«
»Du machst mir Angst, Bruno«, sagte sie. »Erzähle.«
»Ich war in einer fremden Stadt mit dir verabredet. Aber du kamst nicht. Das Hotel war eine schmuddelige Bruchbude. Nichtmal telefonieren konnte ich.
Es war regnerisch, kalt, düster. Ich konnte die Straßennamen nicht lesen, weil ich die Schrift nicht kannte. Ein Szenario von Kafka.
Plötzlich sah ich eine schwarze Limousine. Am Steuer saß ein südländischer Mann, du saßt neben ihm. Ihr schautet euch verliebt an. Er streichelte deine Wange. In meiner Verzweiflung stürzte ich zu dem Wagen ... und riss die Tür auf ... da hast du mich angeschrien:
„Verschwinde - du störst.«
Zuzana umschlang seinen Hals und küsste ihn. Sie konnte ihn nicht leiden sehen. Niemals würde sie ihm wehtun wollen.
»Was träumst du für einen Unsinn? Du weißt, dass ich dir keine Schmerzen zufügen würde. Niemals. Vergiss das Unheilszeichen. Denke an jetzt, an unsere gemeinsame Reise durch Japan, schau dir diesen schönen Steingarten an. Aber, sage mal, ist es nicht sonderbar, dass wir über deinen Traum ausgerechnet hier sprechen?«
»Meinst du den Steingarten?«
»Nein, ich meine Hiroshima.«
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Bei der Ankunft in Los Angeles überreichte man Zuzana an der Hotelrezeption einen Brief, dessen Absender ihr unbekannt war. Er war auf Tschechisch geschrieben:
»Wir kennen uns nicht, aber ich kenne Ihren Vater. Die Verhältnisse in unserer Heimat hatten mich, wie Ihren Vater, zur Flucht gezwungen. Jetzt lebe ich schon seit zwanzig Jahren in Los Angeles. Ihr Vater und ich waren Arbeitskollegen in Prag. Ich habe ihn sehr geschätzt. Sie würden mir eine große Freude bereiten, wenn Sie mir erlauben würden, Sie zu einem Gespräch aufzusuchen.«
Sie gab Simona den Brief zu lesen.
»Merkwürdig. Sogar hier am Pazifik kennt jemand meinen Vater. Bitte ruf ihn an und vereinbare ein Treffen in unserem Hotel.«
Zuzana hatte nie einen Kollegen ihres Vaters aus der Prager Zeit kennengelernt. Sie erhoffte sich von dem Gespräch, mehr über ihren Vater zu erfahren.
Ein gebeugter alter Mann am Stock betrat die Hotellobby. Er trug – gänzlich unamerikanisch - einen Schlapphut aus Filz. Das war er.
Sie begrüßten sich freundlich. Er wollte nichts über ihre Tätigkeit wissen. Musik und Weltruhm schienen ihn nicht zu interessieren. Aber ihr Vater. Er erkundigte sich ausführlich nach dessen Gesundheitszustand und seinen heutigen Lebensumständen. Dann fragte Zuzana ihn nach seiner Zusammenarbeit mit ihrem Vater. Darauf hatte er gewartet.
»Ihr Vater war unter dem Stalinisten Antonín Novotný tätig, der im Januar 1968 von Alexander Dubček abgelöst wurde. Dubček versuchte, einen Reformkurs unter dem Slogan >Sozialismus mit menschlichem Antlitz< durchzusetzen. Als ausgewiesener Finanzfachmann behielt ihr Vater seinen Posten, weil auch die Reformer auf seine Kompetenz nicht verzichten konnten.
Niemand wusste genau, wo er ideologisch stand: War er ein Stalinist, der auf den neuen Kurs eingeschwenkt war, oder war er insgeheim immer schon ein Reformer gewesen, der das Ende des Stalinismus vorhersah? So hatte er in beiden Lagern Freunde und Feinde.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kam ich in seine Abteilung. Ich wurde sein Freund und Bewunderer.
Ihr Vater war ein Finanzgenie. Er konnte auf der Klaviatur der Planwirtschaft spielen wie kein anderer – allerdings ohne ein Spieler zu sein. Nein, er war ein Jongleur.
Auch hatte er ein untrügliches politisches Gespür. Daher fürchteten ihn manche Politiker. Er hatte ein drittes Auge, mit dem er in die Zukunft blicken konnte. Rechtzeitig sah er das Ende des >Prager Frühlings< kommen.
Er liebte Sie, seine Tochter, über alles. So verschwiegen er sonst war, so gesprächig wurde er, wenn er von Ihnen erzählte: von Ihrem Aussehen, Ihren hübschen Kleidern, Ihren guten Noten in der Schule und natürlich von Ihrer außergewöhnlichen Musikbegabung und Ihrem Eifer am Klavier.
Als er sich mit Ihnen und Ihrer Mutter nach Wien absetzte, dürften Sie zehn oder elf Jahre alt gewesen sein. Es war der 5. Juli 1968.
Ich erinnere mich genau. Seine Flucht schlug in Prag wie eine Bombe ein.
Niemandem hatte er auch nur das Geringste angedeutet, auch mir nicht. An seinem letzten Tag verabschiedete er sich bei Dienstende so wie immer. Er – die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in Person – erschien am nächsten Morgen nicht im Büro.
Jemand wurde zu seiner Wohnung geschickt. Er war nicht da. Die Schränke waren leer. Er schien ausgezogen zu sein. Nachts war er in seinem Wagen nach Bratislava gefahren. Dort traf er Sie und Ihre Mutter. Sie waren schon einige Tage vorher aus Ostrava gekommen, um Verwandte zu besuchen. Zu dritt fuhren Sie im Morgengrauen über die Grenze nach Österreich.
Am Nachmittag rief er mich aus Wien an, berichtete von seiner nächtlichen Fahrt und sagte, dass er die Heimat für immer verlassen habe.«
All das hatte Zuzana noch nie gehört. Sie war dem alten Mann dankbar.
Wie viele Landsleute hatte auch er nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch die Panzer des Warschauer Pakts resigniert und sein Land verlassen. Nach Zwischenstationen in Westeuropa war er in New York angekommen. Unter den tschechoslowakischen Emigranten in LA hatte er Freunde, also ging er nach Kalifornien.
»Ich verdiente meinen Lebensunterhalt als Tellerwäscher in einem Schnellimbiss. Mit dessen Eigentümer verstand ich mich gut. Er kehrte in seine Heimat Alaska zurück und verkaufte mir den Imbiss. Ich konnte Geld sparen und kaufte mich in eine Finanzberatungsfirma ein. So konnte ich in meinen Beruf wieder aufnehmen, war erfolgreich und habe jetzt als Rentner mein Auskommen.«
»Wenn ich Ihre Geschichte höre«, sagte Zuzana, »muss ich mich fast schämen, denn uns ging es in Wien von Anfang an gut. Mein Vater arbeitete nicht mehr. Er liebte die Wiener Cafés, las dort Tageszeitungen in verschiedenen Sprachen, diskutierte mit Studenten, Journalisten und Künstlern. Gelegentlich ging er zu einer Versammlung der Österreichischen KP. Von dort kam er meist missmutig zurück. >Salonrevoluzzer< nannte er sie.
Wenn ich in Wien bin, gehen wir in sein Stammcafé. Dort zeigt er sich gern mit seiner berühmten Tochter. Er ist stark gealtert und pflegebedürftig. Gottseidank kümmert sich meine Mutter um ihn.
Mein Vater sprach nie vom Geld, meine Mutter auch nicht. Es gab eine geheime Quelle. Wenn ich ihn darauf ansprach, wich er immer aus: >Eine Pianistin sollte sich den Kopf frei halten von Geldfragen. Das überlässt man dem Vater oder dem Ehemann<.
Und meine Mutter sagte nur: >Frag den Vater.< Jetzt aber frage ich Sie: Woher kam die harte Währung nach unserer Flucht?«
»Ich weiß es nicht. Es kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte über Massičs Vermögen. Er soll mit illegalen Waffengeschäften viel Geld verdient haben. Er soll der Eigentümer von Geschäftsvierteln in westdeutschen Großstädten gewesen sein. Er soll bei internationalen Transaktionen die Währungsunterschiede genutzt und dabei Millionen Dollar verdient haben. Er soll als Doppelagent für die CIA und den KGB spioniert haben.
In diesem Gerüchtedschungel hatte die Wahrheit keine Chance. Wenn einer der wenigen, die es tatsächlich wussten, geredet hätte, wäre auch das für ein Gerücht gehalten worden. Außerdem: Warum sollte ein Mitwisser den Mund aufmachen? Er würde sich dabei ins eigene Fleisch schneiden.«
»Ich werde meinen Vater bitten, Ihnen zu schreiben. Ihnen beiden wird es sicherlich Freude machen, Erinnerungen auszutauschen.«
»Sehr freundlich, aber ich rate Ihnen ab. Er wird mir nicht schreiben, und wenn ich ihm einen Brief schicke, wird er ihn nicht beantworten.
Er gehört zu den Menschen, die Teile der Vergangenheit aus dem Bewusstsein löschen wollen. Wenn ihnen das gelungen ist, empfinden sie den Verlust als Befreiung.«
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Als Bruno Zuzana wiedersah, erschrak er: Sie war erschöpft, hatte dunkle Ringe unter den Augen und eingefallene Wangen.
»Das war wieder sehr anstrengend, nicht wahr?.«
»Ja, du siehst es mir an.«
»Wann endlich raffst du dich auf, deine Kräfte zu schonen?«
»Wir werden sehen.«
»Du endest noch als Wrack, wenn du so weitermachst.«
»Ja, ich sollte in mich gehen und langsamer treten. Aber ich bin so schwer zu bremsen wie ein Öltanker.«
»Der Mai war ereignisreich«, sagte er. »Hast du mitbekommen, dass wir einen neuen Bundespräsidenten haben? Roman Herzog. Dass Erich Honecker in Chile gestorben ist? Wer weiß, was uns dieses Jahr sonst noch bringen wird?«
»Ich muss aufs Einseifen zurückkommen: Mein Lunch mit Attyla war kein Tête-à-tête. Er hat mir nicht den Hof gemacht. Wir haben uns freundlich unterhalten. Deswegen hat es mich wirklich geärgert, dass du am Telefon – 6000 Kilometer entfernt von mir - wieder über ihn hergefallen bist. Wieder deine Tiraden gegen ihn! Ich kann es nicht mehr hören!«
Bruno schwieg – niedergeschlagen.
Zuzana, mit erhobener Stimme:
»Ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass Attyla nicht der ist, für den du ihn ausgibst. Er ist kein Angeber und auch kein brünstiger Hirsch. Mir gegenüber ist er nicht dreist. Mir tritt er mit Respekt und Takt entgegen.«
Sie sprach schneller und lauter:
»Mir macht es Spaß, mit Leuten wie ihm zusammen zu sein. Viele Vergnügungen habe ich ja nicht. Mein enthaltsames und karges Leben macht mich unzufrieden, nein: unglücklich. Ich lechze nach Abwechselung, Veränderung - und nach Freiheit – ja Freiheit.«
Sie ereiferte sich immer mehr, ihre Stimme überschlug sich:
»Ich lebe nur, um mich der Musik zu opfern. Ich ersticke an meinem Schicksal.«
Jetzt schrie sie:
»...mir reichts...ich muss raus...«
Entsetzt hörte Bruno zu. Noch nie hatte sie ihn angeschrien.
Ratlos starrte er vor sich hin. Er ging in die Küche und holte zwei Gläser Wasser. Als er zurückkam, weinte sie leise.
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Bruno Tormack hatte einen auffälligen Brief in der Post – ohne Absender und mit handgeschriebener Adresse. Er fiel aus allen Wolken. Es war ein langer Brief von Attyla, mit Tinte geschrieben:
"Lieber Bruno,
seit sechs Jahren, seit meiner Party im Juli 1994, haben wir keinen Kontakt mehr. Ich habe mich nicht mehr gemeldet, weil ich annahm, dass du mich wegen meiner Affäre mit Zuzana aus deinem Leben gestrichen hast.
Wahrscheinlich gehst du bis heute davon aus, dass ich Zuzana betört habe, um sie für ein Abenteuer mit mir zu gewinnen.
Aber so war es nicht! Deswegen schreibe ich dir:
Ich habe dir Zuzana nicht ausgespannt!
Sie ist nicht das unbedarfte Frauchen - du weißt es besser als ich - das man einem anderen wegschnappen kann. Wäre sie das, hättest du sie nicht geheiratet.
Auf meinem Fest war sie von Anfang an überdreht. Frauen, die ihr im Aussehen nicht das Wasser reichen konnten, machte sie überzogene Komplimente. Sie führte hochtrabende Gespräche und wollte Leute intellektuell beeindrucken, die ihr überlegen waren. Sie kokettierte mit verschiedenen Männern, denen sie mehr oder minder unverhohlen signalisierte, dass sie an dem Abend etwas erleben wolle.
Ich sagte ihr, dass nur ich der Richtige sei, da umarmte sie mich stürmisch und rief exaltiert:
>Ja, du. Nur du.<
Als wir dann in Berlin zusammenlebten, merkte ich bald, unter welchem Stress sie stand.
Wenn sie eine Platte gehört hatte, auf der ein neues Talent ein technisch schwieriges Stück noch schneller spielte, als sie es bisher konnte, verlor sie beinahe die Nerven. Sie übte dann solange, bis sie das Stück noch eine Idee schneller ausführen konnte.
Sie konnte überhaupt nicht entspannen. Einmal war ich mit ihr auf Gran Canaria in einer schönen Finca. Sogar dort übte sie täglich mehrere Stunden. Entspannen – das kannte sie nicht.
Ebenso wenig wie die Vorzüge der Sesshaftigkeit. Sie hatte kein richtiges Zuhause. Sie war immer unterwegs – nicht nur körperlich, sondern auch geistig und seelisch. Sie lebte wie in einer Karawane, die niemals ankommt.
>Meine Heimat ist der Flughafen<, pflegte sie scherzhaft zu sagen.
Die vielen Konzerte, die sie sich zumutete, verbunden mit den Reisen über den ganzen Globus - das konnte nicht gut gehen. Es war die reinste Selbstausbeutung.
Niemand hält so etwas jahrelang aus - es sei denn, er hat Nerven aus Stahl. Die hat sie aber nicht. Im Gegenteil. Sie ist extrem sensibel, wie du am besten weißt.
Sie nimmt sich alles furchtbar zu Herzen und ist von geradezu besessener Aufrichtigkeit.
Während andere Pianisten sich ins Fäustchen lachen, wenn Publikum und Kritiker die falschen Töne, die sie spielen, nicht hören, grämt sie sich und leidet.
Das Zusammenleben mit mir war hektischer als das mit dir. Und sie genoss es. Sie wollte Schluss machen mit ihrem, wie sie es nannte, >Klosterleben<. Sie wollte etwas erleben und sich amüsieren.
Das war in Berlin mit mir eher möglich als in Köln mit dir. Auch in Wien tat sich nichts, weil sie dort niemanden kannte, der sie aus ihrer Einsiedelei rausholte.
Sie war richtig vergnügungssüchtig, hatte Nachholbedarf. Aber ihr Klavierspiel durfte darunter nicht leiden. Da gab es keine Abstriche. Sie kam ihren Konzertverpflichtungen ohne Einschränkung nach und übte wie der Teufel schon frühmorgens, selbst wenn es am Vorabend spät geworden war.
Sie hatte das großstädtische Milieu, in das ich sie einführte, voll akzeptiert. Sie stürzte sich hinein. Die kleinen und großen Selbstdarsteller aus meinem Umfeld umschwirrten und umgarnten sie.
Kein Wunder, denn man kann sich blendend mit ihr unterhalten. Sie ist gebildet, intelligent, schlagfertig.
Wenn sie rote Religion predigte und wie eine Salonrevoluzzerin marxistische Ideologie propagierte, um sie gleichzeitig bösartig zu verballhornen, hingen alle amüsiert an ihren Lippen. Es war eine erstklassige Show.
Sie genoss es, wenn sie von diesen Leuten bestaunt wurde, wegen ihres Witzes, ihrer Redegewandtheit, und auch wegen ihrer manchmal skurrilen Ansichten – aber eben nicht wegen ihres Klavierspiels. Denn sie war geradezu süchtig nach Bestätigung dafür, dass sie nicht nur Pianistin war.
Die Gründe für ihren Zusammenbruch hängen auch mit ihrer Kindheit zusammen. Wir beide wissen, dass Zuzana keine Kindheit hatte. Wie die meisten Wunderkinder.
Statt einer Mutter hatte sie einen ehrgeizigen Zuchtmeister, von dem sie sich terrorisiert fühlte und daher zurückzog.
Welch tiefe Wunden muss ein Kind davongetragen haben, das sich, wie Zuzana, als Opfer der eigenen Mutter fühlt?
Ich habe die Pianistin Zuzana Massič nicht auf dem Gewissen. Nein, ich bin nicht der Schurke, der der Menschheit ein Genie genommen hat.
Für die Leute, die Zuzanas komplexe Probleme nicht kennen, ist es natürlich das Einfachste, sich an eine Beziehungskrise zu halten. Wenn dann ein notorisch polygamer Mann im Spiel ist, der als Verursacher infrage kommen kann, hat man den passendsten
Schuldigen gefunden.
Ich weise diese Verurteilung mit aller Entschiedenheit zurück.
Dein
Attyla"
Bruno glaubte nicht, was er da las. Nie und nimmer konnte Attyla einen Brief zur eigenen Verteidigung schreiben. Der ständige Angreifer in der Defensive? Das konnte nicht sein.
Bruno las den Brief ein zweites Mal.
Schließlich seufzte er und holte tief Luft. Dann brüllte er so laut, wie er noch nie gebrüllt hatte:
"Du Mistkerl. Hol’ dich der Teufel!"
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Bruno rief Zuzana an. Es ging ihr noch schlechter als beim letzten Telefonat.
Er verlor kein Wort darüber, dass er den WDR verlassen hatte. Für sie war das nicht mehr wichtig. Natürlich sagte er ihr auch nichts von Attylas Brief.
»Ach Bruno, mit mir geht es zu Ende. Ich bin des Lebens überdrüssig. Es hat seinen Sinn verloren.«
Er fragte sie wieder, ob er zu ihr kommen solle. Ob ihr das helfen würde.
Sie antwortet nicht. War ihr die Frage lästig?
Er versuchte, ihr Mut zuzusprechen.
»Gib dir keine Mühe«, wehrte sie ab.
»Heute Morgen fiel mir ein Satz von Paul Valéry ein, der zu seinem Spiegelbild sagte:
>Lebe wohl, wir werden einander nicht mehr lange sehen<.
Ich bin ein Wrack. Wie ein sinkendes Schiff nähere ich mich dem Meeresgrund.
Der Tod vergisst niemanden. Er steht schon neben mir.«
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